Internet-Raketen nutzen die fehlende Bildung ihrer Kunden
Ausgangssituation seit Jahrzehnten
Im Handwerk ist es erforderlich, durch erstklassige Ausbildung sein Können und seine unternehmerischen Grundkenntnisse mit einem Meisterbrief nachzuweisen, wenn man sich selbstständig machen möchte.
Dem Gastronom steht die Selbstständigkeit bereits nach einer Sitzungsteilnahme beim Gesundheitamt offen, wenn er seine Zuverlässigkeit dadurch beweisen kann, dass gegen ihn keine Straftaten im polizeilichen Führungszeugnis zu finden sind.
Anders ausgedrückt:
Wer als Goldschmied Menschen dadurch verletzten könnte, dass ein von ihm gefertigtes Armband zu eng ist, benötigt für seine Selbstständigkeit eine tiefgründige Ausbildung.
Wer in der Gastronomie Menschen durch Unkenntnis und Unachtsamkeit vergiften könnte, muß keinerlei Prüfung für seine Selbstständigkeit ablegen.
90er Jahre
Der Ausser-Haus-Verzehr boomt. Die Menschen lassen sich ihr Essen immer öfter nach Hause liefern. Tausende Betriebe drucken Millionen von Flyern in denen sie ihre bis zu 150 angeblich frisch gekochten Speisen anbieten. Der Kunde bestellt per Telefon, erhält Pizza, Pasta und Sushi und bezahlt an der Wohnungstür.
00er Jahre
Mit der Ausbreitung des Internet entstehen die ersten online-Bestellportale. Der Gastronom mietet sich dort virtuell ein und bezahlt anfangs 0,41 € pro Bestellung, später 5-8% vom Nettowert der Bestellung als Vermittlungsprovision. Das Verhältnis der Auftragseingänge liegt bei ca. 85% per Telefon und 15% per online-Shop. Bezahlt wird immer noch bar an der Wohnungstür. Durch den Wettbewerb unter den privaten Bestellportalen bleiben die Provisionen für den Lieferdienst erträglich.
10er Jahre
Kluge Internet Raketen kaufen rivalisierende Bestellportale. Es wird sehr viel Geld in Werbung gepumpt (z.B. dadurch, dass sich Fernsehsender an den Portalen beteiligen und anstatt Geld für ihre Beteiligung zu bezahlen, den Gegenwert in Werbezeit in die Waagschale werfen).
Der hungrige Kunde ist zu bequem, beim Lieferdienst direkt zu bestellen, dem es laut online-Vertrag untersagt ist, über andere Bestellquellen günstiger zu verkaufen. Wer dagegen verstößt, dessen Shop wird stillgelegt. Das Verhältnis der Auftragseingänge liegt bei ca. 1% per Telefon und 99% per online-Shop. Bezahlt wird überwiegend online. Die Provisionen steigen auf über 18% vom Bruttowert der Bestellung.
Der gastronomische Familienbetrieb um die Ecke, der sich diesem Teufelskreis entziehen möchte, um seinen Kunden einfach nur gutes Essen zu vernünftigen Preisen anzubieten, wird durch seine Kündigung des Online-Portals innerhalb einer Woche insolvent sein.
Der Kluge gegen die Ahnungslosen
Heerscharen von Steuerberatern haben es aufgrund ihrer völligen Markt- und Branchenunkenntnis und in ihrer für die Branche typischen Rückwärtsbetrachtung längst vergangener Geschäftsvorfälle versäumt, ihre ahnungslosen Mandanten darauf hinzuweisen, dass
- eine Provisionszahlung maximal in der Höhe geleistet werden kann, die als Gewinn zur Verfügung steht;
- es wirtschaftlich eine Katastrophe ist, auf die Umsatzsteuer, die dem Unternehmer überhaupt nicht gehört, eine Provision zu bezahlen;
- die klugen Bestellportale die eigentlichen Kunden darstellen und es nicht ratsam ist, sich von einem oder zwei Kunden abhängig zu machen.
So sieht es heute aus
Von ihrer üblichen jährlichen Netto-Umsatzrendite (ca. 1% bis 8%) bezahlen die Lieferbetriebe zusätzlich ca. 16% bis 18% ihres Brutto-Umsatzes an die klugen Internet-Raketen. Der entstandene Verlust von ca. 10% pro umgesetzten Euro wird dadurch kaschiert, dass nicht alle per Telefax eingehenden Aufträge in die Kasse eingegeben werden, um über steuerfreies Geld zu verfügen. Mit diesem kauft man dann im Discounter Mehl, Tomatensoße und Käse ein, damit dem Finanzamt nicht das Ungleichgewicht zwischen Einkauf und Verkauf auffällt. Aber der Ahnungslose vergisst dabei, dass seine „nicht erfassten Aufträge“ für die nächste Betriebsprüfung bei der klugen Internet-Rakete korrekt und ordentlich in deren Buchhaltung abgelegt sind.
Fazit:
Solange es keine Reglementierung zum Marktzugang in der Gastronomie gibt, werden zigtausende von ahnungslosen Unternehmern in die Insolvenz rennen und ihrer Strafe erfahrungsgemäß dadurch entgehen, dass sie sich in ihr Heimatland absetzen – das Geld zum Leben haben sie während ihres Unternehmertums in Deutschland bereits jahrelang getarnt als in Einzelüberweisungen ins Zielland geschickt.